Seit Jahrzehnten setzt sich die St.Galler Boxtrainerin Geraldine Brot für die Randsportart ein. Dabei gibt sie ihren Schüler:innen eine Lebenseinstellung weiter und hilft gefährdeten Jugendlichen, sich selbst zu respektieren.
Autor: Francisco Martinez Ruiz
Titelbild: Im Trainingsraum ist sie der Chef: Geraldine Brot überwacht die Einheiten ihrer Schüler:innen.
(Bildquelle: Francisco Martinez Ruiz)
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VIDEO: HUGO BROTS LEHREN BLEIBEN UNVERGESSEN
GALERIE: DER BOXCLUB ST.GALLEN IN DEN MEDIEN
INTERVIEW: EIN BOXTRAINING FÜR KÖRPERLICH BEEINTRÄCHTIGTE
«In schwierigen Momenten kann ich doch nicht einen auf sterbenden Schwan machen? Ich stehe auf, das hat mich das Boxen gelernt», sagt Geraldine Brot, während hinter dem Bürofenster im Boxclub St.Gallen, die Fäuste ihrer Schüler:innen in die Boxsäcke prallen. Schützlinge nennt sie diese fast schon mütterlich. Die 49-Jährige ist gross, hat kurze blonde Haare und eine schmale Statur. Wie in jedem Training trägt sie den blauen Sportanzug des Vereins. Alles wäre anders gekommen, hätte sich die damals Zwölfjährige vom reinen Männersport einschüchtern lassen. Stattdessen fing sie an, mit ihnen zu trainieren. Ihr Trainer und Vater war Hugo Brot. Hugo Brot war ein Verdingbub, als Kind wurde er an ein Kloster ausgeliehen. Er überlebte Tuberkulose und kämpfte 438 Amateur-Boxkämpfe, wovon er nur 23 verlor. In St.Gallen führte er den Boxclub. Geraldine Brot sieht ihn als Mentor, für sich und seine ehemaligen Schützlinge. Vier seiner Schüler sind heute noch im Verein, drei davon als Trainer. Alle standen im nahe, bis zu seinem Tod im Jahr 2017.
Hugo Brots Lehren bleiben unvergessen
Pino Malinconico und Luca Federici trainierten als Jugendliche unter Hugo Brot. Zusammen mit Geraldine Brot erinnern sie sich und ziehen einen Vergleich.
Striktes Training und erweiterte Grenzen
In Brots Verein werden junge Menschen mit Neigungen zu Gewalt toleranter. Solche mit niedrigem Selbstbewusstsein bringt sie bei, es zu stärken. Durch Respekt und Disziplin hilft sie ihren Schüler:innen über sich hinauszuwachsen. Das erfordert Regeln. «Wenn jemand das Gefühl hat, man kann ins Training kommen und eine Saublöde tun, dann hat dort der Schreiner das Loch gemacht», sagt sie. In ihrem Training kommt niemand zu spät, ansonsten gibt es Liegestützen. Wenn die Schüler:innen miteinander sprechen, drohen Strafen im Kollektiv. Der strenge Umgang ist ein Standard, gelobt wird selten. Ihre Schüler:innen akzeptieren ihre Art, deswegen kommen sie ins Training. Luca Scheuss boxt seit sieben Jahren unter Brot. Die Grenzerfahrungen treiben den 24-Jährigen an. «Geraldine bringt uns körperlich immer ans Äusserste», sagt Scheuss, «dabei vertraue ich darauf, was mein Körper leisten kann, was wiederum mein Selbstbewusstsein aufbaut». Brot merkt, dass ihre Art nicht immer die Richtige ist. Sie erinnert sich immer selbst, dass sich die Zeiten geändert haben. Während sie nach der alten Schule ihres Vaters lebt, kommen ihre Schüler:innen aus anderen Generationen. Das sei zum Teil schwierig. «Es kommt mir manchmal vor, als hätten die Jungen den Pfupf nicht mehr und es fällt ihnen schwer, durchzubeissen», sagt sie. Bemerkt sie eine Motivationslosigkeit im Training, wird sie laut. Sie konfrontiert die Betroffenen, blickt ihnen durchdringend in die Augen und fordert mit ausdrucksstarker Gestik und klaren Worten, was sie von ihnen will. «Ich kann sie nicht aufgeben lassen und verhätscheln, das bin ich nicht».
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Bildquelle: Francisco Martinez Ruiz
Ihre Schützlinge und Sie
Neben Härte hat Brot ein offenes Ohr für ihre Schüler:innen. Sie hat Kontakt mit Lehrpersonen und Eltern von Jugendlichen, die Schwierigkeiten in der Schule oder zu Hause erfahren. Brot beobachtet ihre Boxer:innen genau. Sie hat bereits geritzte Arme und Wutausbrüche gesehen. Wenn ihr Teilnehmer:innen durch ihre Verhaltensweisen auffallen, nimmt sie sich Zeit für sie. So auch für ein Mädchen, das in der Schule schweres Mobbing erfährt. «Ich fing an, mit ihr zu trainieren und brachte sie an den Anschlag.» Kam das Mädchen an ihre Grenzen, feuerte Brot weiter an. «Dann ist sie in Tränen ausgebrochen und hat einfach alles herausgelassen. Sie erzählte von der Schule und was sie dort erfahre», sagt Brot. Sie hörte ihr zu und fing an, das Mädchen wieder aufzubauen. Gute Worte gehören dazu, die Arbeit dahinter liegt jedoch im Boxen. «Wenn sie das Training bei mir schafft, muss sie vor niemandem mehr Angst haben», sagt Brot. Für sie ist der Verein eine Möglichkeit, einen Beitrag an das gesellschaftliche Zusammenleben zu leisten. Denn als Polizistin ist sie auch mit den dunklen Seiten der Menschen vertraut. «Ich bekomme absurde Meldungen mit, wie jemand eine Katze anzündet oder wenn wieder eine Person zusammengeschlagen wurde», sagt sie. Anstatt sich damit zu beschäftigen, warum Menschen gewisse Handlungen vollziehen, überlegt Brot, was sie dagegen tun kann. Durch das Boxen bringt sie den Menschen eine Lebenshaltung bei. Diese beginnt mit Respekt. Respekt vor den Mitmenschen, Respekt vor der Umwelt und vor allem Respekt vor sich selbst.
Sie kann gar nicht anders
Brot sucht bewusst die Zusammenarbeit mit anderen Vereinen, geht an Schulen, um über den Sport und das Vereinsleben zu sprechen oder setzt sich für ein Training mit körperlich Beeinträchtigten ein. Auch gibt sie Vorträge, über die sie die Vereinsphilosophie nach aussen trägt. So auch vor dem Panathlon Club. Der Verein ehemaliger und aktueller Spitzensportler:innen zeichnete bereits ihren Vater mit einem Ehrenpreis aus. In einer Präsentation zeigt Brot die Statuten der Gründung des Boxclubs 1929 und wie sich an deren Ehrenkodex, bis heute nichts geändert habe. Brot spricht mit erhobener Stimme, um die Schläge und scharfen Atemzüge ihrer Schüler:innen im Hintergrund zu überschallen. Sie steht breitbeinig hinter ihrem Publikum, bedient mit einer Hand ihren Laptop und hält mit der anderen die Notizzettel. «In unserem Club waren schon immer alle Menschen willkommen», sagt Brot, während sie über ihre neongrüne Brille immer wieder in Richtung ihrer Schüler:innen blickt. Als wolle sie sicherstellen, dass diese ihre Übungen korrekt weiterführen. Nach ihrem Vortrag beantwortet sie Fragen, bei Weisswein und Canapé, während im Hintergrund der Schweiss auf den Ringboden tropft. Leicht nervös, aber mit klarem Blick macht Brot den Anschein, als wolle sie in diesem Moment nichts lieber, als ihre Schützlinge anzufeuern.
Bildquelle: Francisco Martinez Ruiz
INTERVIEW: EIN BOXTRAINING FÜR KÖRPERLICH BEEINTRÄCHTIGTE
«Boxen wird von vielen Seiten immer noch verteufelt, weil es eine brutale Sportart ist»
Boxen trotz körperlicher Beeinträchtigung: Andreas Anderegg, der Präsident des Dachverbands Schweizer Boxer:innen (Swissboxing), erkennt eine Chance für die Randsportart.

Im letzten Jahr hat sich Swissboxing mit der Fachstelle für Behindertensport Schweiz (PluSport) zusammengeschlossen. Das Ziel: Der Aufbau eines Trainings für Menschen mit einer körperlichen Beeinträchtigung. Die beiden Parathlet:innen Abessia Rahmani und Philipp Handler absolvierten im November des letzten Jahres ein Probetraining im Boxclub St.Gallen. Solche Schautrainings sollen zeigen, wie inklusive Trainingseinheiten aussehen können.
Herr Anderegg, welche Veränderung im Boxsport erhoffen Sie sich durch die Zusammenarbeit?
Anderegg: Zum einen ist die Zusammenarbeit eine Imageverbesserung für uns. Boxen wird von vielen Seiten immer noch verteufelt, weil es eine brutale Sportart ist. Zum anderen wollen wir kommunizieren, dass durch Light-Contact-Boxing (LCB) auch Menschen mit einer körperlichen Beeinträchtigung am Sport teilnehmen können.
Was ist Light-Contact-Boxing genau?
Anderegg: Im LCB ist der harte Schlag kein Erfolg. Im Gegenteil: Dieser wird bestraft. Bei wiederholten harten Schlägen wird die ausführende Person disqualifiziert. Somit ist LCB keine Niederschlagssportart mehr. Denn in Niederschlagssportarten ist die Vernichtung des Gegners ein Erfolg und das ist bei LCB nicht der Fall. Das zu kommunizieren, ist für uns sehr wichtig. Es gibt Menschen, die von der Sportart fasziniert sind, sich aber durch die Hoheit im Kampf abschrecken lassen. Hier muss ich anfügen, dass das Ziel im Boxen nicht die Vernichtung des Gegners ist, sondern ein Sieg durch Technik und Punkte. Boxer, die mit dem Ziel eines Knockouts in einen Kampf gehen, haben in der Regel keinen Stich.
Wie ist der aktuelle Stand im Zusammenschluss mit PluSport?
Anderegg: Diverse Clubs in der Schweiz haben Interesse gezeigt, ein inklusives Training aufzubauen. Momentan sind wir in der Aufbauphase und wir brauchen Zeit, bis alles Fuss fasst. In Zukunft soll auch Wettkampfs Boxen für körperlich Beeinträchtigte stattfinden. Bis jetzt waren die Reaktionen positiv. Ich merke, dass der Boxsport alle Menschen immer mehr fasziniert.
Woran liegt diese Faszination Ihrer Meinung nach?
Anderegg: Ich denke, die Faszination liegt im Zweikampf und wer dabei als stärkere Person herauskommt. Ausserdem konfrontiert man im Boxen den inneren Schweinehund. Den hat jeder Mensch in sich. Man wundert sich: Wie reagiere ich in so einer Konfrontation? Werde ich nervös? Werde ich unsicher? Dadurch besiegt man diesen inneren Schweinehund und allenfalls sogar den Gegner. Ich sage immer: Wer sich im Ring behauptet, der oder die geht selbstbewusst durchs Leben. Boxen ist eine Lebensschule. Auch für Menschen mit einer körperlichen Beeinträchtigung. Sie müssen nur richtig angeleitet werden. Das ist das Anspruchsvolle.
Wo liegen die grössten Herausforderungen, in der Gestaltung eines inklusiven Trainings?
Anderegg: Die Beeinträchtigungen der Boxinteressierten sind unterschiedlich. Die Herausforderung liegt darin, das passende Angebot zur Verfügung zu stellen. In gewissen Bereichen brauchen die Trainer:innen noch eine zusätzliche Ausbildung. Vor dem Training muss geschaut werden, was gemacht werden soll und wie. In der Regel läuft das problemlos. Im Probetraining bei Geraldine Brot haben wir gemerkt, wie ein Training aussehen kann. Vor allem bei Philipp Handler, der eine Sehbehinderung hat, waren wir alle begeistert, wie stark er die Einheiten absolviert hat.

Mit einem Flair für visuelle Geschichten beschreibe ich faszinierende Persönlichkeiten. Kontaktieren Sie mich.

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